17.01.2019

Felix E. Müller, Chefredaktor der NZZ am Sonntag.
Am Anfang des Jahres boomen die Prognosen. Viele erweisen sich dann in der Rückschau als falsch. Was allerdings das Schicksal des Rahmenabkommens mit der EU betrifft, darf man gefahrlos voraussagen, dass es sich dabei um den wohl wichtigsten politischen Entscheid dieses Jahres handeln wird. Warum?
Das Rahmenabkommen, von der EU seit langem gefordert und von der Schweiz fast ebenso lange mit beträchtlicher Unlust behandelt, bringt ein strukturiertes und berechenbares Verhältnis zur EU. Ein wichtiger Teilaspekt ist ein geregeltes Verfahren für die Streitschlichtung mit einem Schiedsgericht. Mit einem solchen Abkommen wären die Parameter gesetzt, die eine Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU ermöglichen. Das ist insbesondere für die Wirtschaft wichtig, weil auf diese Weise eine friktionsarme Anpassung an die regulatorischen Entwicklungen im wichtigsten Exportmarkt der Schweiz möglich ist. Auf diese Weise wäre der problemlose Zugang zum EU-Binnenmarkt weiter gewährleistet.
Im Rahmen der Verhandlungen musste die Schweiz allerdings Konzessionen leisten, was im Fall von Verhandlungen eigentlich nicht überraschen kann. Doch hier haken die Kritiker ein. Sie befinden sich einerseits im linken Lager: Hier heisst es, die Konzessionen bei den flankierenden Massnahmen seien nicht akzeptabel, sie würden das Lohnniveau der Schweizer Arbeitnehmer bedrohen. Faktisch sind diese Flankierenden aber nur für eine oder zwei Branchen von einer gewissen Bedeutung, wo man sich ja auch andere Lösungen vorstellen könnte. Für die Kritiker im rechten Lager geht es traditionellerweise um die Frage der Souveränität, welche durch das vorgeschlagenen Schiedsgerichtsverfahren beeinträchtigt würde. In einem Punkt sind sich die Opponenten aber einig: Sie streben Neuverhandlungen mit der EU an, um ein der Schweiz (oder ihnen) genehmeres Ergebnis zu erhalten.
Damit schlagen sie einen Lösungsweg vor, der eine Gleichung mit zwei Unbekannten darstellt. Die erste Unbekannte ist: Gibt es überhaupt Neuverhandlungen? Denn dafür braucht es das Einverständnis beider Seiten. Bis anhin hat Brüssel aber wiederholt festgehalten, Neuverhandlungen seien ausgeschlossen. Die zweite Unbekannte ist: Wäre das Ergebnis von Neuverhandlungen besser als der jetzige Rahmenvertrag? In der Mathematik gelten Gleichungen mit zwei Unbekannten als eher anspruchsvoll. In der Politik sind sie objektiv nicht lösbar. Das heisst, dass der Vorschlag der Kritiker des Rahmenabkommens – Neuverhandlungen – auf dem Prinzip der doppelten Hoffnung beruht: Ja, es gibt Neuverhandlungen, ja, das Ergebnis wird vorteilhafter für die Schweiz sein. Doch selbst wenn sich die erste Hoffnung erfüllt, könnte es durchaus sein, dass dies für die zweite nicht der Fall sein wird und das Ergebnis schlechter ausfällt als der heutige Vertragsentwurf. Was dann? Wieder Neuverhandlungen fordern? Oder die Rückkehr zum ersten Verhandlungsergebnis? Schliesslich ist auch völlig unklar, wann überhaupt Neuverhandlungen starten und wie lange sie dauern würden.
Bei einem Nein zum jetzigen Rahmenabkommen wäre folglich nur etwas gewiss: Jahrelange Unsicherheiten wären die Folge. Die Weiterentwicklung der bestehenden bilateralen Verträge wäre vermutlich blockiert, die EU würde wohl eine Politik der Nadelstiche verfolgen (deren moralische Rechtfertigung hier nicht diskutiert werden soll!), es käme Sand ins Getriebe der bisher ziemlich reibungsglosen wirtschaftlichen Beziehungen. Mit andern Worten: Die Basis des jetzigen Verhältnisses der Schweiz zur EU beginnt zu erodieren.
Nun ist die Wirtschaft auf stabile und berechenbare Rahmenbedingungen angewiesen. Unsicherheiten, unklare Zukunftsperspektiven, regulatorische Überraschungen belasten die Geschäftsaussichten, drücken auf den Umsatz und hemmen die Investitionsfreude. An einem solchen Zustand kann niemand ein Interesse haben. Gewichtige Stimmen aus der Wirtschaft plädieren genau deswegen für ein Ja zum vorliegenden Abkommen.
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